wohnst du noch oder lebst du schon?
Wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann ist das vielleicht das Schönste, was es gibt. Der erste Atemzug, der erste Schrei, das erste Mal die Augen geöffnet. All diese ersten Male, die ein kleiner Mensch erlebt und die für alle Umstehenden das eigene Leben so unglaublich spürbar machen. Eine winzige Hand, die nach einem Zeigefinger greift und vielleicht, mit Glück ein winziges Lächeln. Ein winziger Mensch, mit einer großen Zukunft, von der er selbst noch gar nichts ahnt.
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Wie auch die letzten Tage, hat mich die Aufregung aus dem Bett gejagt. Während die Kaffeemaschine der Nachbarn brummend meinen Espresso raus-presst, widme ich mich dem Leergut und muss schmunzeln. Es wurden exakt so viele Flaschen getrunken, wie ich ursprünglich kaufen wollte und ebensoviele Flaschen stehen ungeöffnet daneben. Kurz huscht mir die Frage durch den Kopf, warum mir nicht gereicht hat, was ich schon hatte. Warum ich mehr wollte und meinen lieben Nachbarn gebeten habe noch was mitzunehmen. Warum ich mich erst mit 100% Reserve wohl gefühlt habe? Schnell wird entschieden, dass es ganz richtig so ist und die Airbnb Gäste ein Willkommensgeschenk bekommen. Meine Maßlosigkeit wird weiter nicht thematisiert und das ist gut so. Der Kaffe ist fertig.


Heute ist der letzte Tag und wo gerade noch Unklarheit war, da stehen plötzlich zwei gepackte Rucksäcke. 7 Unterhosen, 3 kurze, 2 lange Hosen und auch die Reisehängematte ist noch im letzten Moment dazu gekommen. Internationale Führerschiene, Krankenversicherungen und Visa Karten. Der Rest ist am Flohmarkt verkauft, an Freunde verschenkt oder gespendet.


Sogar die Frage nach dem Flughafentransfer und der Abfahrtsuhrzeit wurde diskutiert und demokratisch entschieden. Gegen mich, aber das ist okay. Mit der Bim zu fahren um dann fünf Stunden am Flughafen zu warten, erscheint mir jetzt auch eher ungemütlich. Wir werden zweieinhalb Stunden vorher dort sein und auch da bleibt mir wohl genug Zeit, um über meine Theorie der “100% Reserven” nachzudenken.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, so viele liebe Menschen zu kennen, zu mögen und als Freunde und Familie zu haben. “Abschiedsparty” war bisher eine seltene Kategorie meiner Abendgestaltung und als Betroffener sowieso eine Premiere – aber umso wärmer kann ich das Genre empfehlen. Der perfekte Mix aus Feierlaune, Emotion und Aufregung.


Man sollte viel öfter Feste feiern. Viel öfter tanzen. Viel öfter Gäste haben. Viel öfter die Menschen um einen herum und viel öfter das selbst Leben genießen.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Gerade noch tanzen alle wild unter Blitzen, die den Nachthimmel erhellen und plötzlich schließt sich die Lifttüre und verschlingt das letzte Mal für diesen Abend winkende Hände und lachende Gesichter.
“Bis gleich!”
Immer schon blöd, meine Angewohnheit “Bis gleich!” zum Abschied zu sagen. Jetzt, an der Lifttüre, aber besonders blöd. Dann ist es still. Das Stiegenhaus, gerade noch voller Schuhe, liegt ebenso leer wie der Tisch mit “Take Aways” im warmen Lichtschein, der aus der Wohnungstüre fällt. Gott sei Dank ist morgen noch ein Abschiedsfest in der Kantine denke ich und freu mich, dass man sich auch an Abschiedsfeiern gewöhnen kann.
Menschen sind Gewohnheitstiere!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Ob meine Eltern sich das gedacht haben, als ich ein winziger Mensch war und das erste Mal die Augen aufgemacht habe? Das ich mal auf Reisen gehen würde? Das ich den linearen Weg verlassen würde?
Selbst wenn sie lächelnd über meinem Bettchen gestanden haben und mir die Welt zu Füßen legen wollten, sie haben sich sicher nicht gedacht, das dieses Gap-Year nicht vor, sondern nach dem Studium wäre. Das das Studium selbst nicht vor, sondern erst nach der Karriere wäre, auf das sind sie niemals gekommen. Unterm Strich kann man jedoch sagen, dass sich ein hoher Anteil ihrer Wünsche für mich wohl erfüllt hat. Bis auf den linearen Weg… Bei näherer Betrachtung muss ich mir selbst eingestehen, dass diese Reise viel besser in meine Biographie passt, als es für einen klassischen Aussteiger-Blog passend wäre. Das ist schade, denn ich hätte richtig Spaß daran gehabt ein erfolgreicher Anwalt zu sein, der seine Innenstadt Kanzlei von heute auf morgen gegen den Surf-Spot auf Bali tauscht, aber weder bin ich Anwalt geworden (obwohl ich JUS studiert habe) noch kann ich surfen (NOCH!). So hänge ich vorerst in der mittelmäßigen Besonderheit meiner Biographie fest und beschließe das Beste daraus zu machen: Ein winziger Mensch, mit einer großen Zukunft, von der er selbst noch gar nichts ahnt.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Morgen geht es los! Seit 39 Tagen wünschen uns Menschen auf den sozialen Medien eine gute Reise und morgen beginnt sie endlich! Nach 39 Jahren in der lebenswertesten Stadt geht es hinaus in die Welt. Ein neuer Abschnitt beginnt, ein Abenteuer, die nächste Stufe. Lass uns das Leben genießen und neugierig sein! Wir sind doch niemals mehr als winzige Menschen mit einer großen Zukunft von der wir nichts ahnen.
Herzlichen Dank an Hermann Hesse für sein Gedicht “Stufen” und an meine Cousine Anna, die mich daran erinnert hat!
Ich umarme dich innig!
Denke oft an dich und freue mich auf ein Wiedersehen mit dir und deinen Erfahrungen
Trvb herzlich Gerhard
Danke Gerhard, ich freue Nichtsehen auf den Trip und noch mehr darauf, dir danach zu erzählen!
Toitoitoi ist allgemein gültig, nicht nur im Theater.also, ihr Lieben toitoitoi forever!
Danke lieber Peter!!