Obwohl Sheshanga der Erstgeborene war, kam er nie gut mit seinen 999 Brüdern aus. Weniger wegen der Größe des Kinderzimmers oder der morgendlichen Reihenfolge im Bad, als aufgrund der sadistischen Machtspielchen für die er weniger Muße hatte als die anderen. Oft blieb er Tagelang draußen und tat nichts, als den Hummeln beim Fliegen zu zu sehen. Als er in sein “Nichts-Tun-außer-sein” vertieft, sogar vergaß zu essen, begannen sich seine Eltern allmählich Sorgen um den Jungen zu machen und fragten einen entfernten Verwandten um Rat. Onkel Brahma, der kein Geringerer als der Schöpfer der Welt war, versprach ein ernstes Wort mit dem Teenager über seine Zukunft zu wechseln und ihm die Flausen auszutreiben. So saßen die beiden eines sonnigen Nachmittags auf einem der Gipfel im Himalaya und Shesha, wie er liebevoll genannt wurde, erklärte Brahma, dass er so angewidert und beschämt von den Taten seiner Brüder wäre, dass er nie wieder nach Hause zurückkehren wollte. Mehr noch, er würde seine Meditation in den Bergen so lange weiterführen, bis die Welt wieder im Lot und alle dunklen Machenschaften beendet wären. Wenn der Onkel ihm also helfen wollte, dann sollte er ihn nicht länger mit seiner Zukunft und der Wahl des Studiums quälen, sondern ihm lieber die Willenskraft schenken, um ganz und gar in tiefer Meditation versinken zu können. Über die Klarheit des Pubertierenden beeindruckt, bemerkte der Alte erst viel zu spät, dass ihm das Gespräch lange schon entglitten war. Eine kleine Ewigkeit verging, in der der durchdringende Blick aus tiefliegenden braunen Augen die Seele des Onkels zu berühren suchte, bis Brahma sich entschloss den Wunsch des Jungen, der nur mehr Haut und Knochen war, zu erfüllen. Um aber auch die Eltern von ihrer Sorge um die berufliche Vision des Erstgeborenen zu befreien, sollte Shesha sich erstmal darum kümmern, dass die Welt und alle Planeten auf ihrem Platz im Universum bleiben und nicht in die Unterwelt abrutschen oder gar im Chaos versinken. Am liebsten hätte Shesha mit dem Onkel eingeschlagen um den Packt per Handschlag zu besiegeln, nachdem er aber der erste von tausend Schlangensöhnen war, die sich seine Mutter vor langer Zeit gewünscht hatte, musste es bei einem bündnistragenden aber nicht weniger zukunftsfrohen Nicken bleiben. So kam es, das Brahma dem jungen Sheshanga seinen ersten Job gegeben hatte.
1.1. Atha Yoga Anushasanam – Yoga Ist Jetzt.
So vergingen die Jahrhunderte in denen Sheshanga seine Aufgabe verlässlich und gut erledigte. Anfangs eher zurückhaltend und beobachtend, fand er großen Gefallen am baldigen Niedergang seiner Schlangenbrüder in der Unterwelt und dem langsamen Aufstieg der Menschen auf Erden. Als die fantasievollen Winzlinge anfingen sich Geschichten über Shesha auszudenken in denen er tausend Köpfe hatte, war er zuerst skeptisch aber als die Geschichten immer bunter wurden und die Menschen schließlich anfingen kleine Schlangenstatuen mit zahllosen Köpfen aufzustellen, schmeichelte es ihm dann doch. So wurde Shesha ein Freund der Menschen, ihrer nicht enden wollenden Neugier und ihres Erfindungsreichtums.


Die Freundschaft florierte und mit ihr auch Sheshas unbeabsichtigte Öffentlichkeitsarbeit auf Erden. Den Statuen folgten Shreine, den Schreinen Klöster und in den Klöstern lebten schließlich Mönche, die den ganzen Tag nichts anderes machten, als sich immer neue und immer wildere Geschichten über den König der Schlangen einfallen zu lassen. Der Adishesha Boom hatte begonnen und die Followerzahlen gingen durch die Decke, bis eines Tages plötzlich Onkel Brahma und sein Kollege Vishnu bei Shesha anklopften.
Ein besonders findiger kleiner Mensch hatte sich ein paar Tage ohne Essen und Wasser unter einen Baum gesetzt und danach behauptet, einer von Sheshas tausend Köpfen wäre ihm in einer Vision erschienen und habe ihm geflüstert, dass der unmittelbare Weg zur Erleuchtung über Askese und Meditation zu finden wäre. Daraufhin ernannte sich der einfallsreiche Mensch prompt selbst zum Asketen und ging mit der Story in aller Herren Länder hausieren. Natürlich war die Geschichte völlig bei den Haaren herbeigezogen, aber es sollte noch schlimmer kommen: Sheshanga, der König der Schlangen habe ihm das alles auf einem Ozean aus Milch treibend gelehrt, während kein geringerer als Vishnu, der Bewahrer der Welt, auf seinem endlosen Schlangenkörper ruhte. Echt jetzt? Als Brahma seine Ausführungen beendet hatte, musste sich Shesha mit aller Macht das Lachen verkneifen, so absurd war die Geschichte die sich die Menschen diesmal ausgedacht haben. Aber so sehr er sich auch mühte, konnte er seinen hohen Besuch nicht davon überzeugen, dass die ganze Geschichte einfach nur erfunden war und er weder irgendwem erschienen war, noch irgendein Interesse daran hätte je irgendwem zu erscheinen. Das lag wohl weniger an seinen Argumenten, als an der Tatsache, dass Lakshmi, die Frau von Vishnu, Gefallen an der Idee gefunden hatte, auf einer endlosen Schlange mit tausend Köpfen ruhend über einen Ozean aus Milch zu treiben. Immerhin hatten Vishnu und Lakshmi einen Haufen Follower und die Bilder von den beiden im Sonnenuntergang auf der Schlange würde sich einfach genial an den Wänden der Tempel machen.
So kam es, das Brahma dem nicht mehr so jungen Sheshanga seinen zweiten Job gegeben hatte.
1.2. Yogash Chitta Vritti Nirodhah
Anfangs hatte er noch einige Startschwierigkeiten mit dem richtigen Sonnenschutzfaktor aber nach und nach gewöhnte sich seine Haut an Sonne, Wind und sogar an Vishnus fordernde Frau Lakshmi. Seine Eltern jubelierten als sie von den Neuigkeiten erfuhren, denn als Gefährte eines der drei Obergötter hatte der Erstgeborene nicht nur ausgesorgt sondern auch große Ehre über die Familie gebracht. Für die Community war es auch nicht schlecht, denn Lakshmi hatte recht behalten und die Menschen tapezierten die Wände der Tempel wortwörtlich mit dem neuen Motiv des Götterpaares auf der tausendköpfigen Schlange. Damit waren alle glücklich und wenn auch immer wieder mal einer von Shehsas eigensinnigen Köpfen mit der Idee spielte alles hin zu hauen und Etwas ganz anderes tun zu wollen, blieben die anderen aber meist gelassen und ließen ihm seine Spinnereien. Die Mehrheit der Köpfe hatte sich mit der Realität einer neuen Aufgabe abgefunden und hing nicht mehr an den Träumen von früher. Man muss erwachsen werden und dankbar sein für Chancen, die das Leben einem bietet. Schon gar nicht, wenn man tausend Köpfe mit tausend verschiedenen Lebensträumen auf seinen Schultern durchs Leben trägt.


So vergingen die Jahrhunderte in denen Sheshanga auch seine zweite Aufgabe verlässlich und gut erledigte bis eines Morgens Shiva, der dritte der Obergötter unbändige Lust hatte mal so richtig die Sau raus zu lassen und wild und hemmungslos über den Berg Kailash tanzte. Dabei spielte er seine Flöte so laut, das Vishnu vor Schreck fast in den Ozean gefallen wäre, hätte Shesha ihn nicht im letzten Moment gehalten. Voller Entzücken fing sich Vishnu an Sheshas Seite und tappte mit einem Fuss im Takt zum Flötenspiel des Gottes der Musik, dem einfach niemand widerstehen konnte. Shesha befürchtete bereits, ihn nicht länger halten zu können, als sich einer seiner Köpfe mit leisem Zischen dem göttlichen Ohr näherte und von den Tanzkünsten Shivas schwärmte. Wie gerne er so gut tanzen könnte wie Shiva, um Vishnu jeden Tag damit zu erfreuen. Einige Köpfen wandten sich vor Scham ab, einige wollten wutentbrannt über die Hinterlist aus der Haut fahren und wieder andere warteten gebannt auf die Reaktion Vishnus. Nur von Shiva selbst könnte man vielleicht so tanzen lernen, dass es Vishnu zur Freude gereichen könnte, setzte der Unverfrorene erbarmungslos nach. So kam es, dass Shesha sich nach Jahrzehnten seine erste Auszeit klar machte und Vishnu ihn auf die Erde schickte um alle Schönheit der Tänze von Shiva zu lernen. Das traf sich ganz gut, denn just in diesem Moment flehte eine junge Frau um die Gnade einen Sohn groß ziehen zu dürfen. Als sie die Hände voller Opfergaben dem Sonnengott entgegen streckte, fiel ihr prompt eine kleine Schlange in den Arm, die sich im selben Augenblick auch schon in einen kleinen Jungen verwandelte. Sie nannte ihn Patanjali, der “in die Hände Gefallene”.
1.2. Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist
Diese Hindu – Geschichten helfen mir dabei, den tobenden Schmerz in meiner Hüfte zu vergessen, den ich offiziell ganz sanft weg atme und dabei lächle. Ich habe mittlerweile 15 Kilogramm weniger und das bedeutet, dass ich meine Zehen nicht nur sehen kann – NEIN! – ich kann sie sogar mit meinen Händen berühren. Richtig gelesen, nicht nur mit den Fingerspitzen, mit den HÄNDEN. Die allgemeine Beweglichkeit meines Körpers hat in den letzten 2 Wochen ein Level erreicht, dass weit über meine Vorstellungskraft hinausgeht und dennoch hinke ich im hinteren Mittelfeld des Yoga-Teacher-Trainings am Fuße des Himalayas. Eigentlich wollten wir von der meditativen Sanftheit der Yogastunden in Sri Lanka beseelt ein Retreat buchen, aber die Wege der Götter sind unergründlich und so sind wir hier in der Kaderschmiede in den Chandragiri Hills außerhalb von Kathamndu gelandet. Gerade steht unser Instructor Y. auf meinen Oberschenkeln und versucht meine Hüften davon zu überzeugen, ihre in den letzten 39 Jahren lieb gewonnene Komfortzone zu verlassen. Das Ziel heisst Lotus für alle.


Nicht den Salat, den Sitz. Bei den meisten hier keine Thema, bei mir schon. Es soll erwähnt sein, dass ich für meine Lotus-Total-Spezialbehandlung mit überkreuzten Beinen sitze – darf man “Schneidersitz” noch sagen? “Türckensitz” ja bestimmt nicht mehr. Jetzt beginnt Y. meinen Quadriceps femoris, meine Oberschenkelvorderseite, mit seinen Fussohlen nach außen zu drehen. Er tut das in der Erwartung, dass ich mich in den so “neu gewonnen Raum” vorbeuge um meine Hamstrings, also den Bizeps Femoris und seine Freunde zu dehnen. Wir haben, wie der aufmerksame Leser und die aufmerksame Leserin bei dieser Ausbildung auch Physiologie und Anatomie Unterricht. Immerhin soll am Schluss ja auch ein Zertifikat in Yoga-Therapie winken. Ich strecke also die Arme nach vorne und versuche meinen Kopf, mit geraden Rücken, jetzt einatmen, langsam vollständig, nach vorne zu bringen, ausatmen, die Stirn zum Boden. Das ich nicht lache. Das einzige was den Boden berührt sind die Schweißtropfen, die mir vom Gesicht perlen. Dann beginnt er wieder zu zählen. Bis zehn. Viel zu langsam, wie ich finde. Es gibt Yogis, die Positionen mehrere Stunden halten. Die haben aber davor auch keine 17 Jahre in der Josefstadt gesessen. Erst muss der der Körper alle Starrheiten abschütteln bevor der Geist sich befreien kann. Ich atme aus, ignoriere alle Warnschreie meine Gelenke und bringe meine Ellenbogen zum Boden. Y., von meinen Fortschritt angetan, erhöht den Druck noch ein wenig und dann breitet sich diese wohlige Taubheit um mein Gesäß herum aus. In den ersten Tagen hatte ich Sorge, dass ich mich nass machen könnte und es gar nicht merken würde in dem Cocktail aus Schmerz, Freude und Erleichterung, aber das geht ebenso vorbei wie die Angst, dass die Bänder in den KNien einfach mit einem lauten Knall durchreißen könnten. “Don´t push too much!” Es ist nicht leicht diesen Satz aus dem Mund eines Mannes, der meine Oberschenkel mit seinem gesamten Körpergewicht zu Boden drückt, ernst zu nehmen. Wir sind gerade bei fünf angekommen. Wie viel Mühe wir in unserem Leben dafür aufwenden, Haltung zu wahren und dabei doch nichts weniger machen als alles falsch. Was ist das für eine Welt, in der ein wohl durchschnittlich sportlicher Mit-Dreißiger zwei Wochen Spezialtraining braucht, um seine Füße mit seinen Händen berühren zu können? Da läuft doch was falsch! Wann ist dieses Wissen aus unserer Welt verschwunden, dass ein Körper, der aus eigener Kraft nicht länger als 5 Minuten aufrecht sitzen kann, keinen glücklichen und freien Geist tragen kann? Und war die Erfindung von Bürostühlen tatsächlich der Anfang vom Ende? Meine Nase juckt aber ich widerstehe dem Drang zu Kratzen. Volle Konzentration auf die Pose und den Atem ist das Um und Auf meiner erfolgreichen Yoga Praxis. Also erfolgreich ist ja das ganz falsche Wort, denn meine Praxis ist nur für mich allein. Die Matte ist meine Welt und alles was zählt und auch wenn ich mich schon darauf freue, dass ich vielleicht doch noch einen Waschbrettbauch vor meinem Vierzigsten Geburtstag zusammenbringe, darf das nicht das Ziels sein.
1.3. Tada drashtuh svarupevasthanam
Das eigentliche Ziel ist Y. von mir runterzubekommen und es dann irgendwie bis zum Frühstück zu schaffen. Endlich sind wir bei Sieben. Ob man tatsächlich davon leben kann Yogalehrer zu sein? Wieviele Leute wohl zu mir in die Stunde kämen? Ich richte mich ein Stück weit auf und atme dabei tief ein. Das kommt immer gut. Schmerz schießt durch meine Beine, aber diesmal weniger stechend, mehr pulsierend. Als hätte auch der einsehen müssen, dass ihm sein Schrecken am Rückweg aus der Pose immer ein Stück weit genommen wurde. Noch 5 Minuten, dann gleich zum Frühstück. Ich hab noch Käse und frisches Brot aus der Stadt, das wird toll. Man kommt ja gar nicht zum Essen vor lauter Gedehne. Zuerst muss der Körper flexibel werden, bevor der Geist zur Ruhe kommen kann. Aber bei 6 Stunden Yoga jeden Tag und das fünf Wochen lang, da bleibt ihm sowieso nichts anderes übrig. Die Neun zieht Y. immer ganz besonders lang. Eine unendlich nervtötende Angewohnheit, die ich niemals übernehmen möchte. Dann ist es vorbei.
Patanjali hat all das Wissen, das Shiva ihm im Laufe seines Lebens geschenkt hat, niedergeschrieben und wurde damit nicht nur zum Vater des Yoga, sondern hat auch das Wissen des Ayurveda für die Nachwelt gesichert. Er lebte ein erfülltes Leben, in dem er nebenher auch noch zum Meister das traditionellen indischen Tanzes wurde. Heute sind die Experten auf Grund der Fülle seines “Nachlasses” uneinig darüber, ob es sich bei Patanjali als Autor nicht doch um zwei oder gar drei verschiedene weise Menschen gehandelt haben mag. Seine 195 Yoga Sutren liegen neben mir am Frühstückstisch und während ich in mein Käsebrot beiße, frage ich mich, was von unserer “Leistungswelt” bleibt, wenn der Geist erst alle seine Anhaftungen verloren hat.


1.3. In diesem Zustand tritt das wahre Selbst in der eigenen Form auf.
In den letzten Monaten haben wir so viele verschiedene Lebensarten kennen und lieben lernen dürfen, dass es unsere europäischen Gewohnheiten schwer haben werden in dem Kuddelmuddel ihre Vormachtstellung zu bewahren. So haben zum Beispiel die berüchtigten asiatischen Hockerl Klos, die aus nichts als einem Loch im Boden bestehen, ihren Schrecken durch meine regelmäßige Yoga Praxis verloren. Wenn ich aufgrund meiner verkürzten Unterschenkel bisher immer fürchten musste, rücklings ins Klo zu fallen, so hat mir die neu gewonnene Dehnbarkeit die Fähigkeit geschenkt, spielerisch über dem Abgrund zu balancieren und dabei alles Schwere einfach fallen zu lassen.
Ich liebe Yoga.
Ob Adishesha zurückgekehrt ist in seinen Ozean aus Milch wo Vishnu und Lakshmi schon auf ihn warteten oder ob er einem seiner tausend Köpfe in ein neues Abenteuer gefolgt ist, davon wissen wir nichts. Noch nicht.
… schon das Lesen verursacht einen ziehenden Schmerz und in Kombination mit den Bildern spürt man den Angstschweiß… aber unglaublich toll von euch das Ganze auch 5 Wochen durchzuhalten … chapeau …. wenn ihr wieder da seid, werden wir mit der „Lotussitzübung“ und mit mir als „hängende Dehungsunterstützung“ die verbliebene Verbiegbarkeit austesten😂😂😂🥲🥲🥲🤣🤣🤣
Auf das Angebot komme ich aber sehr gerne zurück!!
Mir stehen schon beim Lesen Schweißtropfen auf der Stirn und Bewässern Schwuders Wohnung!